Kurzgeschichte: Der Wasserfilter

Heute will ich eine Geschichte erzählen, die sich vor vielen Jahren abgespielt hat. Ich war jung, kräftig und voll jugendlichem Übermut, immer auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer.

Die Geschichte beginnt an einem sommerlichen Freitag Abend. Anstatt in einem Kinosessel zu gammeln oder am Computer zu zocken, ziehe ich mit einem schwer beladenen Rucksack los, um die Nacht draussen in der Wildnis zu verbringen. Ein Schlafsack, ein Taschenmesser, Feuer und eine Packung Spaghetti. Dazu einen neuen Wasserfilter, den es zu testen gibt und Brot und Milch fürs Frühstück.

In einer zerrissenen alten Hose, einem von vielen Abenteuern verwaschenen Rucksack und voller guter Laune ziehen wir vom Bahnhof los. Das Ziel ist irrelevant. Der Weg ist das Ziel.

Unser Weg führt uns zuerst entlang einer stillgelegten Eisenbahnlinie. Fröhlich hüpfen wir über die ausgedienten Eisenbahnschwellen, plaudern über irgendwelche jugendlichen Banalitäten und fiebern den ersten Sternen entgegen.

Der Himmel wechselt von hellblau, zu kitschig violett zu dunkelblau zu schwarz. Am Horizont zieht langsam der Mond auf und mit ihm Millionen von glitzernden Punkten verstreut über das ganze Himmelszelt.
Frösche quaken und zwischendurch wagt sich eine todesmutige Mücke auf meinen Arm. *Platsch* und schon ist sie zu einem Staubkorn geschrumpft. Wir rasten an einem kleinen Tümpel, um unsere trockene Kehle zu stillen. Doch halt, unsere Wasserflaschen sind leer. Die Stunde des Wasserfilters ist gekommen. Dann hoffen wir doch, dass die reinigende Kraft nicht nur leere Versprechungen sind.

Nach weiteren Kilometern Marsch durch die stille Dunkelheit, kriecht Müdigkeit in unsere Beine. Die Schultern schmerzen vom schweren Rucksack, die Füsse schreien nach frischer Luft und sowieso: Es ist Zeit zum Schlafen.

An einem urbanen Fluss, im Gestrüpp finden wir ein Plätzchen, welches ausreichend Platz für zwei Schlafsäcke und ein kleines Feuer bietet. Wasser entnehmen wir dem naheliegenden Fluss und bald schon schlürfen wir köstliche Spaghetti mit Fertigsauce.

Mit vollen Bäuchen, sitzen wir noch ums Feuer, stochern in der roten Glut und geniessen den Sommerabend draussen. Der Rauch dringt in die Kleider, in die Ausrüstung und in die Haare. Meine Mutter wird wenig begeistert sein. Für mich dagegen ist das der Duft von Freiheit, Natur, Abenteuer und Männlichkeit.

Müde kriechen wir in die kalten Schlafsäcke. Die dünnen Isomatten vermögen kaum eine dicke Matratze ersetzen. Ich spüre den Stein, welchen ich nicht weggeräumt habe, wie er erbarmungslos und unnachgiebig in meinen Rücken sticht. Nach wenigen Minuten bezwingt die Aussicht auf eine gemütliche Nacht die Faulheit. Meine Bemühungen werden durch ein ebenes schon fast gemütliches Nachtlager belohnt.

Vergraben in meinem Schlafsack falle ich in einen tiefen Schlaf. Ich träume von hohen unbezwingbaren Schneebergen, von weiten Feldern und undurchdringbaren Wäldern. Unbezwingbar und undurchdringbar für normale Menschen doch nicht für mich. Mühelos erklimme ich die steilsten Gipfel, überquere schwerelos weite Felder und schleiche mich elegant durch weite Wälder. Weder Bären, noch Wölfe noch gifte Spinnen können mir etwas anhaben. Doch plötzlich ein hecheln neben meinem Ohr, es kommt näher und näher, bis ich förmliche den feuchten Atem auf meinem Gesicht spüre. Das muss der Wolf sein, der meine Spur aufgenommen und mich unbeirrbar über die Berge, die Felder und die Wälder verfolgt hat. Der Wolf der mich sogleich verschlingen wird genauso wie er Rotkäppchen gefressen hat.

Während meiner ganzen Reise habe ich Drachen besiegt, gegen Riesen gekämpft, böse Elfen überlistet und jetzt endet mein Leben im Maul eines hungrigen Wolfs. Lieber soll er Rotkäppchen verschlingen.
Die Wolfsschnauze nähert sich. Ich bereit mich auf den alles entscheidenden Moment vor. Sekunden vergehen, sie scheinen wie Stunden, doch anstatt spitzen Reisszähnen fühle ich eine weiche warme Zunge auf meiner Wange.

Ich schlage die Augen auf und schaue in das etwas plattgedrückte Gesicht eines Rottwilers. Die Freude darüber, dass der Wolf lediglich ein Traum war schlägt schnell in Besorgnis um. Ob das nette Hundi schon gefrühstückt hat?

Ein Pfifff erklingt und weg ist unser Wecker. Das ging nochmals gut.

Die Sonne steht bereits am Himmel, die letzten Frühjogger verlassen langsam den Wald und bald kommen die ersten Spaziergänger. Höchste Zeit, unser Lager zu räumen, bevor wir noch als Penner in eine ungemütliche Situation kommen. Eingekuschelt in den warmen Schlafsack geniessen wir das mitgeschleppte Brot mit Honig und Milch. Das Schlimmste steht uns noch bevor. Die allmorgendliche Mutprobe für Abenteurer in den kälteren Hemisphären: Das Verlassen des heimeligen warmen Schlafsacks, doch irgendwann siegt der Druck auf die Blase immer.

Der Rucksack ist merklich leichter, der Tag hat erst gerade begonnen. Voller Erwartungen nehmen wir die letzten 15 Kilometer Fussmarsch in Angriff. Die Sonne lacht auf uns herab und die Vögel zwitschern. Was wollen wir mehr? Der Tag soll noch eine Überraschung bereit halten. Eine Überraschung mit der wir in unseren kühnsten Träumen nicht gerechnet hätten. Eine Überraschung, die ich auch noch heute, 20 Jahre später so lebhaft in Erinnerung habe, als wäre es gestern gewesen.

Erschöpft erreichen wir unser Ziel. Stolz über die vollbrachte Leistung. Stinkig vom Rauch und glücklich über das neue Abenteuer, geniessen wir die Vorzüge der Zivilisation: Fertigpizza, Chips und Videospiele.

Hundemüde kriechen wir auf allen vieren ins Bett. Der Schlaf übermannt mich augenblicklich, doch er sollte nicht lange anhalten.

Jäh werde ich aus dem Schlaf geriessen. Es ist weder Wolf noch Bär noch sonst ein Traum, sondern die unbarmherzige Realität. Ich erfahre am eigenen Leib, die brutale Kluft zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen Werbung und alltäglichem Leben. Die grossmundigen Versprechen des Wasserfilterherstellers erweisen sich als nicht ganz korrekt. Meine beiden Hände sind gefüllt mit warmer Kotze. Einzelne Pizzastückchen schwimmen wie kleine Eisschollen darin und das ist lediglich die Vorschau auf den restlichen Tag.

Ein Tag der auch noch 20 Jahre später in lebhafter Erinnerung bleibt.